ALFRED MALUCK 1959 VOR DEM MYTIKAS
EINE OLYMP-BESTEIGUNG 1959
VON ALFRED MALUCK
Der Krieg war noch in allen Köpfen, die Not unter der deutschen Besatzung sowohl, als
auch der verbissene Widerstand der griechischen Partisanen in den Bergen. Auf deren
Machtbereich marschierte ich nun zu, den Götterthron Olymp genau vor mir. Ich war 23
und philhellenistisch erzogen, per Anhalter angereist und mit kleinem Gepäck unterwegs
zu den Kultstätten der Antike, alleine reisend und damit der Fürsorge aller griechischen
Mütter ausgeliefert. Schließlich war ich doch ein einsames Kind, um das man sich
kümmern musste. Das erwies sich ganz unerwartet als ein ständiger Intensiv-Sprachkurs,
so dass die Verständigung im Alltagsgeschehen bald kein Problem mehr darstellte.
Heute Morgen erst wieder! Ich hatte gestern Abend die Ausläufer des Olymp erreicht und
mich müde entschlossen, mir das Zeltaufbauen zu sparen. Ich legte nur meinen Schlafsack
unter einen Baum, mich darauf und schlief mit der warmen Julinacht als Zudeck tief und
lange, bis am Morgen ein schlagartig einsetzender Wolkenbruch mich weckte. Da war auch
schon alles zu spät, meine gesamte Habe durchtränkt, bis auf den gut geschützten Foto-
apparat. Schon brannte die Sonne wieder herab, weit und breit war kein Mensch zu sehen,
also breitete ich alles zum Trocknen auf nahen Büschen aus und wartete. Gegen Mittag
waren dann auch Schuhe und Bücher endlich durchgetrocknet, und ich konnte einpacken.
Da standen plötzlich zwei Kinder in der Nähe und sahen mir zu, was ich da so trieb. Dann
liefen sie weg, kamen aber kurz darauf wieder, mit Mama. Die fragte mich erst einmal aus
und befand dann, ich sei ja so alleine und natürlich hungrig und müsse jetzt mitkommen,
das Mittagessen sei fertig. Es gab Linsensuppe. Aber während die deutsche Küche dazu
einen Schuss Essig vorsieht, stand hier eine Kanne Olivenöl auf dem Tisch. Ich als Gast
wurde gebeten, mich als erster davon zu bedienen und nahm widerstrebend aber höflich
ein paar Spritzer. Diese „Bescheidenheit“ ging nun nicht durch. Der Hausherr nahm die
Kanne und vervollständigte mein Linsengericht, mehrmals langsam über meinem Teller
kreisend und mein „danke, danke, danke“ lächelnd ignorierend. Die Linsen trugen nun
eine Schicht von 2 bis 3 Millimeter Öl. Nach dem Essen konnte ich dann gut geschmiert
meinen Weg fortsetzen und erreichte schließlich das Bergstädtchen Litochoron, einen
guten Ausgangspunkt für die Besteigung des Olymp.
Auf meine Frage hin wurde ich von einer rasch wachsenden Kinderschar zum Büro des
Club Alpine geführt. Es bestand aus einem menschenleeren Raum mit Tisch und Stuhl,
einer baumelnden Glühbirne und einer eingerahmten blassen Wanderkarte des Gebietes
an der Wand. Ich wartete, die Kinder blieben draußen, und nun kamen die Jugendlichen
des Dorfes, befriedigten erst einmal ihre Neugier und machten mir dann gemeinsam, sich
gegenseitig überbietend, den Club Alpine. Ob der Zuständige überhaupt dabei war, erfuhr
ich gar nicht. Alle fühlten sich kompetent, und keine meiner Fragen blieb unbeantwortet. Es
ging laut zu und lange. Man führte mich spazieren, präsentierte mich dem Dorf, flirtete ein
bisschen, sang Lieder und ging dann noch bis zur Schlafenszeit mit mir in mein Büro,
dessen Fußboden ich mir schon als Bett erbeten und von allen bewilligt bekommen hatte.
Aber nun wurde erst einmal gearbeitet, meine geplante Bergtour besprochen. Und da
waren sich alle einig: So wie ich mir das dachte, ging das sowieso nicht. Der Weg sei weit
und nur noch hier und da in alten Resten markiert. Eine Karte zum Mitnehmen gebe es
nicht. Ohne Ortskenntnis könne man
diese Tour nicht alleine machen. Ich müsse auf jeden Fall einen Führer anheuern, und
zwar einen mit einem Muli für das Gepäck und für das viele Wasser, das man ja für die
vorgesehenen drei Tage in der Julihitze brauche. Aber ich ließ mich nicht beirren, prägte
mir wenigstens noch die Karte an der Wand ein, so gut ich konnte, schlief dann bis zum
Morgengrauen und machte mich auf.
Der Weg zerfiel in 3 Teile: Aufstieg von Litochoron (300 m) zu dem Plateau „Stavros“
(1000 m) - auf gleich bleibender Höhe 10 km nach Westen zur Quelle Brioni - Aufstieg zum
Katafygion (Schutzhaus, 2300 m).
Der erste Teil war gekennzeichnet durch das Fehlen jeglicher Markierungen und ein Netz
von Ziegenpfaden, an deren Kreuzungen ich mich in der Regel für den nach oben und
Westen entschied. Das ging nicht immer gut. Ich landete in einer Sackgasse, musste
umkehren und verlor damit ca. 2 Stunden. Zudem setzte mir die sengende Sonne zu. Aber
ich erreichte das Plateau. Dort fand ich
einen Hütejungen mit seinen Ziegen vor, und der konnte mir sehr genau den Beginn
meines weiteren Weges beschreiben.
Der erwies sich als relativ einfach und vor allem schattig im Walde verlaufend. Unange-
nehm war die häufige Begegnung mit unterschiedlichen Schlangen. Manche hörte ich nur
neben mir rascheln, manche lagen zusammengerollt auf einem sonnenerwärmten Stein
am Wegesrand, aber manche lagen auch mitten auf meinem Weg und machten keine
Anstalten, sich durch Rufe oder Klatschen oder Aufstampfen vertreiben zu lassen. Mit
großem Respekt schlich ich mich dann vorbei, einmal sogar mit Anlauf und einem Sprung
darüber hinweg. Später bin ich dann noch einmal erschrocken, als mir jemand erzählte,
manche der dortigen Schlangen seien sehr giftig und könnten sich bis zu 2 m weit durch
die Luft schnellen. Aber alle dösten unbeirrt weiter, und ich erreichte die Quelle Brioni.
Köstlich dieses frische kühle Wasser direkt aus dem Berg. Es hatte sogar eine Familie
bewogen, sich dort niederzulassen und unter einfachst denkbaren Bedingungen zu leben.
Die Quelle, der Wald und ein paar Ziegen
gaben ihnen alles, was sie brauchten.
Ich füllte meine schon längst ausgetrunkenen Wasserflaschen (2x 1l) auf und machte mich
an die letzte Etappe, in Serpentinen über einen relativ steilen Hang, insofern den
anstrengendsten Teil des Tages. Im letzten Tageslicht erreichte ich endlich das Schutzhaus,
genauer gesagt das alte Schutzhaus. Denn ein neues entstand gerade gleich daneben. Auf
dem ganzen Anwesen gab es nur einen Menschen, keinen Hüttenwirt, keinen Wandergast,
nur einen düsteren Typen mittleren Alters mit feurigen Augen und einem 10-Tage-Bart.
Der war, wie ich später erfuhr, Bauarbeiter an der Baustelle und hieß Georgios. Ich kam
also an, sah zuerst niemanden, dann diesen unbehauenen Klotz und fragte ihn, wo ich
mich anmelden müsse. „Gar nicht.“ Wo ich denn schlafen könne. „Geh rein und such dir
was aus.“ Ob es abends was zu essen gebe. „Nein. Wo kommst du her? Bist du
Deutscher?“ „Ja.“ „Hab ich viele erschossen...“ Das fing ja gut an. Ich setzte mich auf eine
Bank, trank mein letztes Quellwasser und fragte, wo ich Wasser fände. „Wasser gibt es
nicht. Das müssen wir selber alles mit
Mulis aus dem Tal holen. Da können wir nichts abgeben.“ Da fiel draußen ein Schuss und
hallte zwischen den Felswänden hin und her. Ich fragte und erfuhr, das sei sein Kollege, der
eine Gemse schießen wollte. Eine Stunde später kam der auch zur Tür herein, ebenfalls
eine wilde Erscheinung, nahm seine Flinte von der Schulter und brüllte seine umständliche
Erklärung in den Raum, warum auch ein anderer diese Gams nicht getroffen hätte.
Inzwischen hatten wir aber Besuch bekommen. Zuerst hatten wir nur draußen Glöckchen
läuten hören. Dann hörten wir ferne Stimmen, Mulis mit Stalllaternen tauchten aus der
Finsternis auf, und hinter ihnen die Familien meiner beiden Partisanen, die beiden
Ehefrauen und eine Schar Kinder. Sie kamen zum Wochenendbesuch. Es wurde gejubelt
und geherzt und geküsst und dann ausgepackt. Viele kleine Überraschungen der heimi-
schen Küchen wurden ausgebreitet, ein riesiger Kessel mit Wasser und Bergkräutern im
Kamin über offenem Feuer aufgehängt, was einen vorzüglichen Tee ergab. Ich weiß das,
weil ja 2 Mütter dabei waren! Da war ich
schnell vereinnahmt, ausgefragt und eingereiht. Es wurde geschlemmt, erzählt, gesungen
und viel Tee getrunken, bis wir alle schlafen gingen.
Am nächsten Morgen zeigte sich der Mytikas, mit 2917 m der Hauptgipfel des Olymp, in
den Wolken, und mein neuer Freund Georgios bedrängte mich, erst am nächsten Tage
aufzusteigen, da werde der Mytikas frei sein. Ich lehnte das ab mit Hinweis auf das knappe
Wasser. Ach was, ich solle nur da bleiben, es sei genug Wasser da, und er könne mit
Sicherheit die Gipfel ohne Wolken vorhersagen. Ok sagte ich, aber das komme nur in
Frage, wenn ich mit verköstigt würde und mich dem entsprechend nützlich machen
könnte. So kam es, dass ich ein paar Stunden lang Holz hackte, anschließend mit den
Kindern spielte und am Familienleben teilnahm. Der folgende Tag schenkte mir dann mit
problemlosem Aufstieg und wolkenloser Fernsicht das erhoffte großartige Bergerlebnis,
ist aber im Laufe der Jahre in den Hintergrund meiner Erinnerungen zurückgefallen, hinter
die menschlichen Begegnungen.